Gunung Agung
Der heilige Berg Balis: Gunung Agung
Für manchen ist er der unumstrittene Regent, für andere sogar mehr als ein König – eher wie ein zu Stein und Asche gewordenes göttliches Wesen. Der Gunung Agung auf Bali ist für die Menschen auf dieser ungewöhnlichen indonesischen Insel die Achse ihres Lebens, das Hauptquartier ihrer zahlreichen Götter und der Nabel ihres Denkens und Handelns. Sein Gipfel überragt mit 3.142 Metern seine gesamte Umgebung und er ist ein noch immer aktiver Schichtvulkan, der sich in jüngerer Zeit sehr oft durch eine Rauchsäule bemerkbar macht. Dem Gunung Agung gewähren die Balinesen gleichermaßen Respekt und Verehrung, denn in ihren Augen ist er der Sitz der Götter, das heilige Zentrum ihres Kosmos.
Zwei Routen führen auf den Gipfel des Gunung Agung
Wer den Gipfel des Gunung Agung besteigen möchte, der sollte ein Frühaufsteher sein, denn der Blick vom Kraterrand ist insbesondere beim Sonnenaufgang ein unvergessliches Erlebnis. Der Weg zum Sitz der Götter kennt keine ausgeschilderte Pfade, und deshalb ist es ratsam, sich eines erfahrenen Guides anzuvertrauen. Nach dem morgendlichen Aufbruch umhüllt das Dunkel der Nacht den majestätischen Berg, der immer mal wieder grollt und sich wie ein besitzergreifender Tyrann gibt. Zwei Kletterrouten führen auf den Gunung Agung. Eine beginnt am heiligen Tempel Besakih, von wo aus geübte und trittsichere Wanderer fünf bis sechs Stunden benötigen. Die zweite Route ist kürzerer, startet am Tempel Pura Pasar Agung und endet nach etwa drei Stunden am unteren Kraterrand. Das Pondok Bukit Putung bei Besakih dient seit vielen Jahren als ein geeignetes und beliebtes Basiscamp für den Aufstieg.
24 Bäche fließen zu Reisfeldern und Tempeln
Der Gunung Agung ist ein Feuerberg. Einer von fast achtzig aktiven Vulkanen in Indonesien. Für Bali ist er zugleich Fluch und Segen, denn er bescherte den Menschen auf dieser Insel in der Vergangenheit Katastrophen und wird gleichzeitig als Sitz der Götter verehrt und als Ort, der sich anbietet, die Dämonen zu besänftigen. Den Bauern der grünen Insel schenkt der Berg genau 24 kleinere und größere Bäche, die sich an seinen Flanken den Weg in die Täler suchen und seit Generationen zu den Reisfeldern und Tempeln umgeleitet werden. An den Ufern der Wasserläufe legen die gläubigen Hindus sehr oft Opfergaben nieder, denn auch das kühle Nass vom Agung gilt als heilig, und die Tempel zu seinen Füßen sind für die Balinesen so etwas wie die Schaltzentralen zwischen ihnen und der Welt der Götter.
Ein Berg als spirituelle Achse der Welt
In der Mythologie des Hinduismus balinesischer Prägung hat der Gunung Agung eine im doppelten Sinne des Wortes überragende Bedeutung. Hier wohnen nach Vorstellung der Insulaner die Geister der Ahnen und insbesondere die von allen verehrte Gottheit Shiva. Der vulkanische Gigant entstand einer Legende zufolge, als Gott Pasupati die spirituelle Achse der Welt schuf, den Berg Meru. Die gläubigen Hindus auf Bali errichteten deshalb in einer Höhe von neunhundert Metern an einer Flanke des Gunung Agung den heiligen Tempel Besakih, eine Ansammlung von Altären und Schreinen. Er ist der „Muttertempel“ der Balinesen, und das Gelände ähnelt einer Leiter. Wer zu ihren Füßen steht, bemerkt, dass die Tempel direkt zum Gipfel des Berges zeigen. Dorthin, wo sich Himmel und Erde berühren.
Das göttliche Signal des Vulkanausbruchs
Der Tempel von Besakih ist Schauplatz des Eka Dasa Rudra, eines Rituals, das sich lediglich in einem Abstand von hundert Jahren wiederholt und 42 Tage dauert. Am 17. März 1963 explodierte der Gunung Agung zur Überraschung aller Pilger, die sich zu dieser Stunde zur Eka Dasa Rudra in Besakih aufhielten und beteten. Immerhin galt der Vulkan seit dem Jahr 1350 als erloschen. Doch dann hagelten plötzlich Felsbrocken vom Kraterrand und über dem Gipfel türmte sich eine mehrere Kilometer hohe Rauchsäule. In der Umgebung wurden etliche Dörfer zerstört, und 2000 Balinesen verloren ihr Leben. Die Priester der Insel fanden eine Erklärung für den Vulkanausbruch, denn die Reinigungszeremonie in Besakih hätte erst 16 Jahre später stattfinden dürfen. Dass die Tempel am heiligen Berg von den Lavaströmen verschont blieben, deuteten sie – und die Mehrzahl der Balinesen – als ein göttliches Signal.
Auch der Batur spuckte Feuer und Asche
Schon einmal hatte es ein ähnliches Zeichen gegeben, das als überirdische Botschaft auf Bali verstanden wurde. Als im Jahr 1917 der Nachbar des Gunung Agung, der Gunung Batur, ausbrach, wurde zu seinen Füßen das Dorf Batur fast komplett zerstört, doch die feurige Walze kam auf wundersame Weise genau vor dem Tempel der Ortschaft zum Stehen. Neun Jahre nach der Katastrophe spuckte der Batur erneut Feuer und Asche. Diesmal brannte der Altar des Tempels nieder. Die Balinesen erkennen in all‘ diesen Naturgewalten gottgewollte Wunder und ertragen sie mit einer für Andersgläubige schier unvorstellbaren Gelassenheit und Demut. Wer vom Ort Penelokan die Kulisse des Gunung Agung betrachtet, der wird fast immer von Kindern umringt, die Ansichtskarten, Obst, Schnitzereien oder Ketten aus Apfelkernen verkaufen.
Alles Heilige thront auf dem Gunung Agung
Vor undenklichen Zeiten wurde den Balinesen die Vorstellung in die Wiege gelegt, wonach sich in den Untiefen des Meeres das Böse versteckt und das Heilige auf dem Gunung Agung thront. Feste und Zeremonien bestimmen das Leben der Menschen, die sich dank ihrer Überzeugung von einem geordneten Universum behütet fühlen und sich mit großer Inbrunst den Opfergaben widmen, die sie an den Flanken ihres Götterberges oder in Besakih niederlegen. Sie sehen nicht nur im Gipfel des Gunung Agung einen heiligen Bereich sondern in der Gesamtheit dieses gigantischen Vulkans, der sich etwa achtzig Kilometer von der Hauptstadt Denpasar im Osten der Insel erhebt. Kletterer sollten die Gefahren eines jederzeit möglichen Ausbruchs nicht unterschätzen und vor einer Tour Informationen bei den Behörden einholen.
Ein Teil des Pazifischen Feuerrings
Unterhalb von Bali schiebt sich die Indo-Australische Platte unter die Sunda-Platte. Dies alles ist ein Teil des sogenannten Pazifischen Feuerrings, und der Gunung Agung erhebt sich an einer dieser Subduktionszonen, wo sich bei einem Vulkanausbruch eine zähflüssige Lava bilden kann. Geologen zufolge ist der höchste Berg Balis schon allein deshalb so gefährlich, weil sich unter der Magma Gase bilden, die unter Druck explosionsartig aufsteigen können. Gaswolken, Asche und Gestein würden dann mit einer sehr hohen Geschwindigkeit die Flanken des Gunung Agung herunterrasen. Die balinesischen Behörden haben Vorsorge getroffen und evakuieren bei einer sich anbahnenden Katastrophe die Menschen in der bedrohten Zone, die sich zwischen zwölf und zwanzig Kilometer erstreckt.
Der Gipfel als erhabener Sitz von Shiva
„Erhabener Berg“ – das ist die Übersetzung von Gunung Agung, von dem Historiker annehmen, dass er schon in vorhinduistischer Zeit als heilig verehrt wurde. Nach balinesischer Überzeugung ist der Gipfel vor allem Sitz von Shiva. Die wichtigste Gottheit des Hinduismus symbolisiert mit dem Gunung Agung das, was die Balinesen von Shiva erwarten: Zerstörung in Form von Naturgewalten und die Spende von neuem Leben. Alle Tempel am Gunung Agung werden getreu der balinesischen Glaubensvorstellung zum Gipfel ausgerichtet, den sie als heilig, göttlich und rein anerkennen. Hingegen werden die Gräber der Friedhöfe so angeordnet, dass sie zum Meer hin zeigen. Denn auf dem Gipfel wohnt das Gute, und die Insel umgebende Ozean ist für die Balinesen der Ort der Dämonen und der unreinen Unterwelt.
Ein Berg als zentraler Punkt allen Handelns
Während in vielen Regionen außerhalb von Bali ein gewisser Egoismus Orientierungspunkt allen Lebens ist, rücken die Menschen auf dieser indonesischen Insel ihr Denken und Handeln in eine gänzlich andere Glaubensrichtung. Ihr zentraler Punkt ist die Natur und insbesondere der Gunung Agung, und deshalb sind auf Bali traditionell die Wörter „links“ oder „rechts“ unbekannt. Dies allein deshalb, weil ihr heiliger Berg fast von allen Regionen und auch von den umliegenden Dörfern aus zu sehen ist. Aus zahlreichen historischen Schriften ist zu entnehmen, dass sich die meisten Menschen auf dieser exotischen Insel unwohl fühlen, wenn sie den Gunung Agung in ihrem Alltag aus den Augen verlieren. Selbst beim Schlafen wird der Kopf in Richtung Vulkan gebettet.
Eine Insel voller Feste und Farben
Auch beim Bau von Häusern und Straßen weist der Gunung Agung in den meisten Fällen die Richtung. Er bestimmt den Alltag der Menschen auf Bali – er vereint die Mythologie mit dem Glauben an das Gute. Auf einer Insel voller faszinierender Feste und rauschender Farben. Der Gigant unter den Bergen Balis war in früheren Zeiten das Ziel einer anstrengenden Wallfahrt gläubiger Hindus. Zu denen, die sich der Strapaze eines kilometerlangen Anstiegs und einer kultischen Reinwaschung unterzogen, zählte der Primas der balinesischen Fürsten, Dewa Agung von Klungkung. Für konditionsstarke Touristen empfiehlt es sich, den Aufstieg zum Gipfel des Gunung Agung lediglich in der Trockenheit zwischen April und September in Angriff zu nehmen oder die Tour mit einem Ausflug zum Besakih, dem Wasserpalast Tirtagangga oder dem Bali-Aga-Dorf Tenganan zu verbinden.